Die Regentrude
Eine außergewöhnliche Musikerin erarbeitet mit ihrem Flötenorchester eine multimediale Version von Theodors Storms „Die Regentrude“ an der Mülheimer Waldorfschule
Von Thorsten Töpp
Wie sie das mache, dass selbst Grundschüler so gut intonierten, habe ich Ulrike Pfeiffer-Stachelhaus einmal gefragt. „Blicke, Anschauen“. Was das genau bedeutet, erfuhr ich im Laufe der Zusammenarbeit mit Ulrike und ihrem Blockflötenorchester. Ulrike hat das Orchester vor einigen Jahren mit ihren besten Schülern entwickelt. Zurzeit musizieren 16 Mädchen und Jungen zwischen 13 und 22 Jahren miteinander. Einige der Mädchen kennt Ulrike schon seit der Kindergartenzeit, junge Frauen, die sich jetzt aufs Abitur vorbereiten.
Ich schlug Ulrike vor, Musik zu schreiben und diese mit einer Rezitation von Theodors Storms „Regentrude“ zu verbinden. So ein Stück richtet sich weniger alsstory, eher auf einer tieferen Ebene an Jugendliche und junge Erwachsene. Denn es ist die jugendliche Maren, die den Mut, die Klarheit und Entschlossenheit hat, durch ihren Gang in die Unterwelt das Gleichgewicht der Naturkräfte wieder herzustellen.
Sommer 2014, ich lade das Orchester zum Platzhirsch-Festival nach Duisburg ein. Das neue Szenefestival, bei dem ich mitorganisiere, fällt durch großen stilistischen Reichtum auf. Dennoch sind meine Kollegen skeptisch, ein Blockflötenorchester? Doch als Marie mit Isabel und Lilly virtuose Barocktrios vorträgt, Pachelbel musikalisch durchdacht erklingt, die Flöten sogar Lloyd-Webber-Tunes knackig präsentieren, sind alle Zweifel verflogen. „Nächstes Jahr hier die Regentrude!“, behaupte ich kühn.
Oktober 2014, ich gehe zum ersten Mal zu einer Probe und bin baff: statt neugierigem „Hey, du bist also der Komponist!“ verunsichertes Schweigen. Mir war nicht klar, dass ich in einen geschützten Raum einbreche. Ulrike rettet mit Tatkraft: „Jetzt erst mal die Ouvertüre!“. Endlich hat jeder etwas zu tun, die Atmosphäre wird lockerer. Ulrike wirft die Arme hoch und mahnt die Musiker zu mehr Ausdruck. Am liebsten würde sie das Saaldach wegfegen und die Musik ins Freie schicken. Auch an der Körperhaltung wird gearbeitet: „Entknotet euch!“, sagt sie besonders den Mädchen, die gern mit verschränkten Beinen dastehen. Wird rhythmisch unpräzise gespielt, lässt sie Passagen skandieren. Lachkrämpfe werden tapfer unterdrückt. Und als es musikalisch zu fließen beginnt, erzählt Ulrike von einem Urlaub in Irland, wo sie unter einem Wasserfall badete. „Stellt es euch vor, so muss das klingen.“ Ich beginne zu begreifen, warum die jungen Leute ihre Orchesterleiterin bedingungslos lieben.
Die Schauspielerin Angela Noack wird den Part der Erzählerin übernehmen. Kunstlehrererin Ebru Ruhsen Yapca schlägt vor, mit Schülern Illustrationen zu gestalten. Diese sollen dann über dem Orchester projiziert werden und den Handlungsverlauf begleiten. Und wie wäre es, wenn die jungen Künstler während des Stücks live malten? Über eine Kamera auf die Leinwand geworfen? Angela verspricht, sich nach technischen Möglichkeiten im Theater umzuhören. Wir legen den Premierentermin fest: Johannifeuer 2015.
März 2015, Ulrike und ich fragen, ob alle bereit wären, eine CD-Aufnahme der Regentrude zu machen. Einstimmig angenommen. Aber es ist noch viel Arbeit. Denn Aufnahme und Herstellung müssen vor der Premiere sein! Jörn Nettingsmeier, unser Tontechniker, will den Saal kennenlernen. Ebru zeigt uns erste Illustrationen. Wunderbar zart, andeutend, lassen sie viel Raum für die eigene Vorstellung. Sie arbeitet inzwischen mit 5 Schülerinnen der 10. und 11. Klassen. Grafiker Dirk Uhlenbrock will sie für die Layouts der CD und des Promo-Materials nehmen. Mit Dirk entscheiden wir uns für eine kunststofffreie Ausstattung.
Extraproben. Für Maximilian und Noah, die beide gerade ihr Achtklassspiel hinter sich haben, eine besondere Belastung. Ulrike besteht aber auf dem Notwendigen. „So etwas macht ihr nur einmal im Leben!“
30.5., Aufnahmesession! Ouvertüre Anfang, erste Krise. Sopransolistin Lilly lässt sich vom Vibraphon verunsichern. Ulrike bemerkt die hochgekochte Anspannung und bittet um 5 Minuten Pause. Lilly fasst sich und spielt den Rest der Session wie ein Profi.
Nun zeigt Jörn, dass er nicht nur ein fabelhafter Techniker, sondern der geborene Pädagoge ist. Ohne große Worte lässt er seine fachliche Meisterschaft erkennen, trifft den richtigen Ton und sorgt für angstfreies Musizieren. „Keine Angst vor den Griffwechseln“, ruft er bei schwierigen Solopassagen hinein, „der Raum trägt dich.“ Bei bitonalen Stellen: „Hört nicht auf das Gewusel, spielt euren Stiefel.“ Es wirkt und Ulrike strahlt: „So gut haben wir das noch nie gespielt!“ Immer gelöster wird die Atmosphäre, das letzte Stück, ein fröhlicher Hochzeitstanz, braucht gerade mal zwei Takes, dann ist Jörn zufrieden, 21 Uhr, Ulrike bestellt Pizza. Nach 9 Stunden konzentrierter Arbeit kein Murren, kein erschöpftes Jammern, im Gegenteil, Helena und Elisa zeigen Tanzschrittchen, überall fröhliche Stimmen. Drei Tage später geht das Master ans Presswerk.
12.6. Pia und Katja haben die langen, intensiven Proben vermisst. Ulrike spielt Jörns Mix vor. So professionell klingt das? Und so gut zusammen? Intuitiv spüren sie, wie ihre Herzen zusammengewachsen sind.
Endproben. Die jungen Malerinnen üben, ihre Bilder genau zur Musik zu malen. Tarek und Aad übernehmen die Einrichtung von Beamer und Kamera, ich kann die Verantwortung komplett abgeben. Wir verabreden Stellen, an denen die Musik die Rezitation unterbricht und es sind kleine Soli zu vergeben. Alle sind zunächst verlegen, Teenager sind Gruppenwesen. Helena atmet schließlich durch: „Ok., ich mach´s.“ Arnold Schönberg fällt mir ein: „Mut ist, das zu tun, wovor ich eigentlich Angst habe.“
Uns ist immer klarer geworden, wie wichtig es für die jungen Leute ist, angeschaut zu werden. Oft reicht ein kleiner Blick. Ulrike hat ohnehin immer ein offenes Ohr, bietet vertrauliche Gespräche an und weiß um jedes Orchestermitglied, kennt familiäre Hintergründe und Probleme. So wollen wir für jede und jeden eine persönliche Karte schreiben, die ausdrückt, was sie oder ihn besonders machen. Und wir gestalten mit Hilfe meiner Schwester Natascha, die die Session fotografiert hat, ein Fotobuch. Denn auch sie hat genau hingesehen, typische Gesten und Blicke eingefangen.
25.6, „Die Regentrude“ geht zum ersten Mal über die Bühne. Alle sind aufgeregt, aber es ist eine freudige Aufregung, jetzt zeigen wir endlich, woran wir so lange und so intensiv gearbeitet haben! Alle sind in Konzertkleidung, ein wahrhaft festlicher Anblick. Der Saal ist rappelvoll. Es geht los. Angela hat das Publikum schnell im Griff. Beim rasant-virtuosen Feuermann halten die Leute den Atem an. Helena, zwar nervös, spielt aber ihre Melodie wunderschön aus. Kurzer Blickkontakt, Lächeln, Daumen hoch. Die Malerinnen zaubern in 4 Minuten eine karge Weidenallee auf die Leinwand. Hinab in die Unterwelt, ferne schrille Schreie, atonale Fortschreitungen, gestrichene Becken. Maren geht unbeirrt durch diese bedrohliche Welt, ebenso mutig wie Katja, die gleich ein schwieriges Solo hat. Schließlich der fröhliche Schlusstanz, gelöst in dem Wissen, etwas Außerordentliches geleistet zu haben. Riesenapplaus, 30 Menschen halten sich an den Händen, verbeugen sich.
Hinter der Bühne bittet Ulrike alle, einen Kreis zu bilden. „Das war das Schönste, was ich je gemacht habe!“, sagt sie bewegt. Die Präsente werden verteilt, neugierig lesen alle ihre Karten. Elisa, überrascht: „Ihr habt euch ja voll viel gemerkt!“ Das Fotobuch löst Heiterkeit aus, man hält sich gegenseitig besonders witzige Momente unter die Nase.
26.6., Premierenfeier in Ulrikes Garten. Es wird ein wunderschöner Abend, die Jugendlichen verströmen grenzenlose Energie. Noch lange hallen die eiligen Stimmen und das freudige Gelächter durch den Nachthimmel, bis der erste Regen uns hineintreibt.
16.8., Platzhirsch 2015! Tarek und Aad kommen schon vormittags, kennen ihren Job. Noah und Maximilian wollen helfen. Schließlich ist alles bereit, 17 Uhr Showtime, die elektrische Spannung vor der Premiere ist einer normalen Aufregung gewichen. Doch auf der Bühne ist mit einem Mal wieder die enorme Intensität da. Nochmals gesteigert, freier. Beim Feuermann blasen die Flöten mich fast von der Bühne. Angela liest nicht nur, sie kriecht in die Figuren hinein. Annika spielt ihr Solo auf den Punkt.
Ich werde die Zeit mit Ulrike und den Jugendlichen als die emotional berührendste Bereicherung meines künstlerischen Daseins im Herzen behalten. Sie haben mich verändert, die Jungen und Mädchen, ich fühle mich offener und sehe der Welt etwas freundlicher entgegen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar, jedem und jeder einzelnen.
Nochmal Schönberg, im Vorwort zu seiner Harmonielehre: „Dieses Buch habe ich von meinen Schülern gelernt.“
Kontakt bei Interesse an einer Aufführung: thtoepp@arcor.de
http://www.platzhirsch-duisburg.de/die-regentrude
Soundtrailer: www.alla-breve-verlag.de/cds.html
Ungekürzte Version des Textes finden Sie hier.